Geschichte des NKG

Nicolaus Kistner - Ein Lebensbild
NKG Kunst

Das älteste aller Mosbacher Gymnasien trägt den Namen jenes Mannes, der Mosbach schon im 16. Jahrhundert weit über die Landesgrenzen der Pfalz bekannt gemacht hat. Das Leben eines Mannes kann nur in Zusammensicht mit der Zeit, in der er lebte, erfasst werden. Für das Jahr 1501 wird in einer alten Chronik berichtet: „Es regnete rote Kreuze, die erst 9 Tage später verschwanden.“ Diese für die damalige Zeit unerklärliche Erscheinung – der sogenannte Blutregen – wurde als Vorzeichen der großen Pestepidemie des Jahres 1502 gedeutet. In jenen Tagen beeilten sich viele Magister und Studierende der Universität Heidelberg, die Stadt zu verlassen. Von September 1501 bis Januar 1503 und noch mal von November 1539 bis Februar 1540, während eines weiteren Pestzuges, fanden Teile der Universität Heidelberg in Mosbach Zuflucht und Unterkunft. Für diese kurzen Zeitspannen war Mosbach „Universitätsstadt“ mit allen Vorzügen und Nachteilen, die dies so mit sich brachte. Sie können sich vorstellen, dass die hiesige Bürgerschaft dem Einzug studentischen Lebens zum Teil argwöhnisch gegenüberstand und einen Sittenverfall befürchtete.

So bestanden schon vor Nicolaus Kistner engere Kontakte vielfältiger Art zwischen Mosbach und Heidelberg. Die wohl engste geistige Verbindung zwischen Heidelberg und Mosbach, sowohl mit der Universität als auch mit dem kurfürstlichen Hof, war zweifellos die Persönlichkeit Nicolaus Kistners, von dem ein Zeitgenosse sagte, dass er „an vielseitigem Wissen, eleganter Bildung und juristischer Gewandheit einer der bedeutendsten Männer der Zeit und eine Zierde des pfälzischen Staatswesens“ sei.

Nicolaus Kistner – oder Cisnerus in der lateinisierten Form seines Gelehrtennamens – entstammte einer angesehenen Mosbacher Bürgerfamilie, die im Laufe des 16. Jahrhunderts mehrere Rats- und Gemeindebürgermeister sowie Ratsmitglieder stellte. Als sein Großvater, der Ratsherr Nicolaus Johannes Kistner, hochbetagt im Jahre 1494 starb, hinterließ er vier Söhne: Jodocus, Andreas, Johannes und Wilhelm, von denen Jodocus, der älteste, der Vater unseres Nicolaus ist. Besonders interessant für die lokale Geschichtsforschung ist in diesem Zusammenhang, dass der jüngste Bruder, Wilhelm Kistner, als erster evangelischer Pfarrer im heutigen Stadtteil Lohrbach tätig war.

Nicolaus Kistner wurde am 24. März 1529 in Mosbach als Sohn des Kaufmanns und Ratsherrn Jodocus Kistner geboren. Er genoss im Elternhaus eine gute Erziehung und eine gründliche Ausbildung. Andreas berichtet 1771 über Nicolaus Kistners Jugend, indem er schreibt: „Unser Nicolaus wurde von Eltern und Verwandten von Kindheit an in der Schule der Vaterstadt mit den gelehrten Studien recht vertraut gemacht und in jeder Art von Fertigkeit erzogen.“ Nicolaus Kistner hat also wohl das Trivium in der Mosbacher Lateinschule absolviert; das Quadrivium wurde an dem Heidelberger Gymnasium oder Pädagogium gelehrt. Solche Latein- oder Trivialschulen gab es in den Oberamtsstädten der Pfalz, so in Alzey, Bretten, Eppingen, Frankenthal, Kaiserslautern, Mosbach, Oppenheim, Simmern, Sobernheim und Weinheim. Diese Schulen brachten ihre Schüler höchstens „ad secundam classem“. Die Prima war die oberste Klasse. Solche Schulen mit der obersten Klasse, die ihre Schüler direkt zur Universität entließen, gab es in Heidelberg, Mannheim, Neustadt und Kreuznach. Nicolaus wurde deshalb nach Heidelberg geschickt, wo er bis zu seinem 15. Lebensjahr die Neckarschule, damals eine berühmte Lehranstalt der Stadt, besuchte und die lateinische Sprache in Wort und Schrift so beherrschen lernte, wie das dem humanistischen Bildungsideal seiner Zeit entsprach.

Im Jahre 1544 wechselte er auf das Heidelberger Collegium Dionysianum über. Das Dionysianum, später zu Ehren des Kurfürsten Johann Casimir, Casimirianum genannt, war ein mit Stiftungen wohl versehenes Internat mit Lehrbetrieb für ärmere jüngere Studenten, das man heute am ehesten mit einem englischen Universitäts-College in Oxford oder Cambridge vergleichen könnte. Nur begann man in jener Zeit bereits mit 15 oder 16 Jahren mit dem Universitätsstudium.

Später erwies sich Kistner dem Casimirianum sehr erkenntlich, denn er vermachte als Stipendienfond für die Nachkommen seiner Erben und Verwandten diesem Kolleg den beträchtlichen Betrag von 400 Gulden. Er selbst erwarb als Stipendiat an dem genannten Institut zunächst den Grad eines baccalaureus artium, d.h. den ersten akademischen Grad, dann im Alter von 18 Jahren, den des Doktors und Magisters der Philosophie. Bald nach seiner Promotion lehrte Kistner ab 1547 an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg Mathematik und Philosophie.

Es hat nicht den Anschein, als ob Kistner sich schon damals als erst 19-jähriger für die Rechtswissenschaft entschieden habe. Vielmehr deutet sein erster Aufenthalt in der Fremde, in Straßburg, wo er mit den Reformatoren Martin Butzer, Fagius und Martyr zusammentraf, auf ein starkes religiöses Interesse hin. Hier sei bemerkt, dass Martin Butzers Frau aus Mosbach stammte und dem Verwandtenkreis Kistners angehörte.

Straßburg war damals vor allem ein Ort, an dem man sich in Deutschland am meisten um einen Ausgleich zwischen Luthertum und den Lehren der Schweizer Reformierten bemühte. So ist kaum daran zu zweifeln, dass sich Kistner hier im Umgang mit den Straßburger Theologen zum ersten Mal eingehend mit den religiösen Streitfragen seiner Zeit auseinandersetzen konnte. Als Butzer und Fagius unter dem Druck der kaiserlichen Forderungen an Straßburg im Jahr 1549 die Stadt verlassen mussten und nach England gingen, folgte Kistner einer Rückberufung in sein Lehramt an der Heidelberger Philosophischen Fakultät. Zwei Jahre später begab er sich zu einem Studienaufenthalt nach Wittenberg, wo er die bleibende Freundschaft Philipp Melanchthons gewann. Später, als Kistner, nun Professor der Rechtswissenschaft, wieder in Heidelberg lehrte, vertraute Melanchthon seinen Neffen, den späteren Physiker Sigismund Melanchthon, Kistners Studienaufsicht an.

Kurfürst Friedrich II. war, wie sein berühmter Nachfolger Ottheinrich, ein großer Förderer der Universität, u.a. durch die Einrichtung eines Lehrstuhles für Mathematik und eines anderen für Ethik. Hierüber berichten die Universitätsannalen zum 27. August 1552: „Der Rektor wurde in das Archiv des Kurfürsten gerufen und der Kanzler eröffnete ihm dort im Beisein der Räte, es sei der Wunsch des Kurfürsten, dass die Universität den Magister Nicolaus Kistner aus Mosbach zum öffentlichen Professor der Ethik annehme. Zum Gehalt habe der Kurfürst 80 Gulden jährlich bestimmt. Die Universität stimmte dem Wunsch des Kurfürsten zu und nahm Magister Nicolaus Kistner als ersten öffentlichen Professor der Ethik auf.“

Eine der Pestwellen, die Heidelberg mehr als andere pfälzische Städte heimsuchten und zeitweilig zu einer Verlegung des Unterrichtsbetriebs der Universität führten, bot für Kistner 1553 den äußerlichen Anlass, sich für die höhere Laufbahn in einer der drei oberen Fakultäten vorzubereiten. Er widmete sich von nun an dem Studium der römischen Rechtswissenschaft und fand die berühmtesten Rechtslehrer seiner Zeit an der Universität Bourges in Frankreich, später auch in Angers und Poitiers. Auf der Reise dorthin fand er im Hause des Schweizer Reformators Johannes Calvin in Genf herzliche Aufnahme.

Zu den rund 300 deutschen Studenten, die zu Kistners Zeit in Bourges studierten, zählte auch Johannes Landschad von Steinach, der später Hofmarschall und pfälzischer Oberbeamter in Mosbach wurde. Ein noch berühmterer Student der genannten Universität war der junge Pfalzgraf Hermann Ludwig, der zweite Sohn des späteren Kurfürsten Friedrich III.

In seiner Berufsausbildung großzügig durch Friedrich II. und seinem Nachfolger Ottheinrich gefördert, konnte Kistner schließlich seine juristischen Kenntnisse in dem klassischen Land der römischen Rechtswissenschaft, in Italien, vervollständigen und in Pisa den Doktorgrad erwerben, Während seines Studiums in Bologna und Padua wurde er von den dortigen Professoren schon als bedeutender Gelehrter hoch geschätzt.

Auf Wunsch des kunstsinnigen und vielseitig gebildeten Kurfürsten Ottheinrich besuchte Nicolaus Kistner viele Bibliotheken in Frankreich und Italien und erwarb dort seltene Handschriften für die kurfürstliche Bibliothek in Heidelberg. Nach einer so umfassenden Vor- und Weiterbildung stand dem nunmehr Dreißigjährigen eine glänzende Karriere offen. Kurfürst Friedrich III. ernannte ihn bereits im Jahre 1559 zum Professor der Pandekten an der Universität Heidelberg, womit die Würde und Tätigkeit eines kurfürstlichen Rates am Hofgericht verbunden war. Jetzt endlich fasste Kistner festen Fuß in Heidelberg. Er heiratete 1562 Anna Hartmann aus Eppingen und verband sich damit mit einer angesehenen Juristen- und Hofbeamtenfamilie der Pfalz. Sein Schwiegervater Hartmann Hartmanni der Ältere, war pfälzischer Kanzler gewesen, sein Schwager Präsident des kurfürstlichen Konsistoriums und Hofrichter unter Friedrich III. Die Ehe Kistners blieb kinderlos, so dass später die Erbschaft seinen Neffen zufiel.

Eine hohe Ehrung wurde dem Gelehrten im Dezember 1562 durch die Berufung zum Rektor der Universität Heidelberg zuteil, ein Amt, in das man damals auf ein Jahr gewählt wurde, um darauf zugleich anschließend ein weiteres Jahr als Prorektor zu fungieren.

Um die Jahreswende 1566/67 wurde Kistner Beisitzer am Reichskammergericht zu Speyer. Er gehörte dem Reichskammergericht über 13 Jahre lang – in der reifsten Zeit seines nicht sehr langen Lebens – an. Dieses Gericht war die höchste juristische Instanz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis zu seiner Auflösung im Jahre 1806. Es war eine der ganz wenigen Institutionen, in denen sich die gewiss sehr begrenzte Einheit des in viele kleine und kleinste Territorien zerstückelten alten Reiches sichtbar widerspiegelte. Das Reichskammergericht erreichte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zwischen dem Augsburger Religionsfrieden im Jahre 1555 und dem 30-jährigen Krieg den höchsten Grad seiner Wirksamkeit, und daran hatten „Mitglieder von der umfassenden Rechtsbildung, praktischen Tüchtigkeit und vom menschlichen Format Kistners einen entscheidenden Anteil.“ Die eigentliche Rechtsprechung beim Reichskammergericht lag bei dessen Assessoren, die bürgerlicher und adliger Herkunft waren. Als Kistner ernannt wurde, gab es 33 Assessoren an diesem hohen Gericht, ab 1570 waren es 41. Die einzelnen Beisitzer wurden von den Reichsständen präsentiert. In Speyer gab Kistner verschiedene Male Visitationsberichte aufgrund der Überprüfung des Gerichtes durch Vertreter des Kaisers heraus, die später die Hauptgrundlage für die revidierte Reichskammergerichtsordnung wurden.

Damit sind wir bei Kistners bedeutender literarischer Tätigkeit angelangt, in der natürlich rechtswissenschaftliche Abhandlungen den größten Teil einnehmen. Jedoch verfasste er auch kleinere historische Schriften, von denen drei besonders bemerkenswert sind. Es handelt sich hierbei zum Teil um erweiterte Ansprachen, die Kistner bei feierlichen Doktorpromotionen hielt, so z.B. über den Stauferkaiser Friedrich II. und seinen unglücklichen Enkel Conradin sowie Otto III. In Form und Ausdruck zeugen diese Schriften Kistners von hohem Niveau in der Handhabung des klassischen Lateins. Hervorzuheben wäre noch ein frühes literarisches Werk Kistners – ein Gedicht über Frühling und Herbst – das er mit 22 Jahren in Wittenberg in ausgezeichnetem Latein verfasste und dort veröffentlichte. Viele seiner weitverstreuten kleinen Schriften gab Kistners Neffe, der 1558 in Mosbach geborene Theologe Quirin Reuter, im Jahre 1611 heraus. Zu den kleineren Schriften zählen auch mehrere ausgeprägte Gelgenheitsschriften, ein Gedichtbändchen und zahlreiche Briefe, die er an Butzer und Melachthon schrieb.

Doch nicht nur als Autor, sondern auch als Herausgeber der Werke anderer Juristen und Historiker ist der Gelehrte hervorgetreten.

In seinem letzten, für ihn aber bedeutsamen Lebensabschnitt folgte Nicolaus Kistner im Frühjahr 1580 dem Ruf seines Kurfürsten und nahm die Stellung eines Vizehofrichters und Rats in Heidelberg an. Nebenher versah er eine außerordentliche Professur der Rechtswissenschaft an der Universität mit einem jährlichen Bargehalt von 350 Gulden.

Kurfürst Ludwig VI. trug ihm ferner auf, „er solle auch, neben anderen Sachen … für eine Landesordnung uns seinen Rat und Bedenken eröffnen und darin consultieren“, d.h. beraten. Wir können deshalb davon ausgehen, dass Kistner maßgeblichen Anteil bei der Abfassung der pfälzischen Landesordnung und des pfälzischen Landrechts von 1582 hatte. Dieses pfälzische Landrecht blieb übrigens über 200 Jahre, bis zum Ende der Kurpfalz im Jahre 1803, von geringen Äußerungen und gewissen Umstellungen abgesehen in Kraft.

In seinen letzten Lebensjahren war Nicolaus Kistner von schwerer körperlicher und geistiger Krankheit gezeichnet und in seinem Wirken stark beeinträchtigt. Am 6. März 1583 zwischen 5.00 und 6.00 Uhr abends verschied er in Heidelberg im Alter von knapp 54 Jahren. An der Seite seiner kurz vorher verstorbenen Frau wurde er am 8. März 1583 nachmittags 4.00 Uhr beigesetzt. Die Grabinschrift, deren Text uns überliefert ist, wurde mit fast allen anderen Grabdenkmälern der Heiliggeistkirche bei der Zerstörung Heidelbergs 1689 vernichtet.

Ein Kupferstich überliefert uns Kistners Brustbild (siehe erstes Bild der Homepage). Er zeigt den – wie ein Freund in einem Nachruf sagte – an Körper kleinen, an Geiste großen Gelehrten in dem Gewand, in dem uns viele fürstlichen Räte und Juristen jener Zeit begegnen, in schwarzem Wams und Umhang, eine mehrfache Schmuckkette um die steife weiße Halskrause gelegt, ein schwarzes Barett auf dem Haupt. Prüfend und abwägend blicken seine Augen unter der hohen Stirn aus einem schmalen scharfgeschnittenen Gesicht. Melanchthon rühmt in einem Brief an einen Dritten an dem jungen Nicolaus Kistner nicht nur die Bildung, sondern auch die Lauterkeit und Offenheit seines Charakters.

Lange Zeit war Nicolaus Kistner in seiner Vaterstadt vergessen, bis die Stadt ihm vermutlich 1936 vor der Rathaustreppe ein Denkmal setzte, das nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Stadtapotheke in der Kistnerstraße einen neuen Standort fand. Auf der quadratischen Säule aus rotem Sandstein, die von einem Kurpfälzer Löwen mit Rautenschild gekrönt ist, können wir folgende Worte lesen:

Dem Sohn dieser Stadt
Nicolaus Kistner
Rektor der Universität Heidelberg
Richter am Reichskammergericht z. Speyer
1529 – 1583

Das wohl würdevollste Denkmal für Nicolaus Kistner, der vielfach als der „berühmteste Sohn der Stadt Mosbach“ gepriesen wird, war jedoch die Benennung des hiesigen Realgymnasiums im Jahre 1959 mit seinem Namen.

Bruno König